Verlassene Bilder

Es ist mehr als eine Geschichte. Sie (BAF) versuchen die Geschichte ihrer Eltern und ihrer Großeltern von einer anderen Perspektive einzusehen. Vor etwa 50 Jahren kamen ihre Eltern und Großeltern nach Vorarlberg. Sie kamen um zu arbeiten und mittlerweile sind sie hier alt geworden. Viele von ihnen sind jetzt pensioniert, verstorben oder wie sie es einst beabsichtigt haben, zurück in ihre Heimat gegangen. Diese jungen Menschen aber sind hier, sie leben hier, Vorarlberg ist ihre Heimat. 

BAF-Bodensee Amateur Fotografen sind Junge Menschen der zweiten und dritten Generation. Wie sie sich selbst beschreiben, tragen sie Kopftuch, sind tätowiert, glauben an Gott oder auch nicht, sie sprechen Deutsch aber auch die Sprache ihrer Eltern. Sie essen Kässpätzle und trinken türkischen Kaffee. Sie sprechen viele Sprachen; Türkisch, Kurdisch, Griechisch, Serbisch, Kroatisch, Bosnisch, Albanisch und Deutsch. Bei BAF sprechen sie aber eine gemeinsame Sprache – die Sprache der Fotografie. Sie sind ein Verein und machen gemeinsam vielfältige Aktivitäten. Aber das langfristige Ziel dieser jungen Menschen ist es, eine Dokumentationsstelle zur Migrationsgeschichte in Vorarlberg zu errichten. Als ersten Schritt haben sie ein Dokumentationsarchiv gegründet, für welches sie Dokumente, Fotografien und weitere Gegenstände ab 1950 sammeln. Es sind über fünfzig Jahre vergangen und es gibt leider nur wenige Zeitzeugen. Das Dokumentieren und Aufarbeiten dieser Geschichte ist ihr entschiedenes Anliegen. 

Die Erzählung könnte auch eine Dokumentation einer Dokumentation sein. Die jungen Migranten sind mit einem neuen Blick auf den Spuren ihrer Eltern. Und mit einem neuen Auge können wir die Geschichte besser sehen. Das ist genauso wie der Begriff von Epstein: Das Auge, das vom Auge unabhängig ist. 

Die vielseitige Geschichte kann mit der Kristallisation der Ansichten thematisiert werden. Denn es gibt Erzähler, Themen, Geschichte oder Geschichtslosigkeit, Geschichtensammler, Land, Heimat-Heimatlosigkeit, Ansichten, Hoffnungen, auch Hoffnungslosigkeit, Dialog und Kommunikationsverlust etc. Jeder hat einen Gedanken darüber. Was aber denken die Dinge außer uns? Wie eine Kamera, ein Schweigen eines Bildes, ein Foto? Können diese nicht-menschlichen Prozesse über unsere Geschichten denken? Oder besser gesagt, können wir uns dadurch besser verstehen? 

Die erste Frage, die in den Sinn kommt, ist – wie man so eine Geschichte erzählt? Im Grunde ist diese Fragestellung ein Klischee. Der Titel „Verlassene Bilder“ ist bedeutungsvoll. Da diese vergessen und nicht beachtet worden sind. Es geht hierbei um gesellschaftliche Typen von Migranten, die verlassen sind. Wie also schaffen wir es zu vergessen? – Ich glaube die Antwort dazu liefert uns am besten Kafka, aus seinem Dialog mit Janouch: „Die Vorbedingung des Bildes ist das Sehen“, sagte Janouch zu Kafka. Und Kafka erwiderte lächelnd: „Man fotografiert Dinge, um sie aus dem Sinn zu verscheuchen. Meine Geschichten sind eine Art von Augenschließen.“[1]

Das Suchen nach dem Bild ist der Verlust. Die Dinge um uns herum, sind so gestaltet, dass wir uns um diese keine Gedanken machen müssen. Mit televisuellen Bildern, werden wir vom Fernseher betäubt. Wie können wir also in so einem Umfeld, in diesem Chaos das Bild des Migranten entbergen. Das ist die Frage die der Film stellt, bzw. sehen lässt.

Mit einem Drehbuch machen wir uns auf den Weg. Natürlich mit diesem Hintergedanken im Kopf: Um eine Gesellschaft besser zu verstehen, soll man sie danach fragen, was sie über sich denken? Was bringen Fragen zu ihrer Geschichte bzw. zum Erstellen eines Bildes, dessen Antworten wir schon kennen, dieser Gesellschaft? 

Fragen wie – Gibt es Gott, dessen Antworten nicht vorhanden sind, sind in dieser Form Thema von Talk-Shows. Es setzt voraus, dass jeder eine Meinung haben muss, und somit führt dies zu einer Meinungsgesellschaft. In diesem Dokumentationsfilm – vielleicht nennen wir ihn einen Essay-Film – werden wir ihre Geschichten anhören, zusätzlich begeben wir uns auf die Suche nach den verlorenen Bildern. Ich werde versuchen, es mit einigen beispielhaften Bildern aufzuzeigen. 

Bei unserem Kennenlernen mit Fatih Özcelik, Sprecher der Bodensee Amateur Fotografen, ist schon das erste Bild entstanden. In der Nähe vom Bahnhof, wo er aufgewachsen ist, erzählte er mir Geschichten von zugewanderten Menschen. In diesem Augenblick, war er durch einen vorbeifahrenden Zug nicht mehr zu hören. Somit entstand für mich das erste Bild, die verlorene Stimme in dieser Geschichte. Er wurde lauter in seinem Erzählen, aber war noch immer nicht zu hören. Nach einiger Zeit bemerkte er, dass er nicht mehr weitererzählen konnte, und somit kam mir auch das zweite Bild, das für mich im eigentlichen Sinne ist. Ein Gesicht, welches meines ansieht. Gesichter sind die Zeugen dieser Geschichte. Es erinnert uns an etwas Vergessenes. War also dieses Bild vom „Gesicht“ ein Punktum. Das soll heißen Dekonstruktion und Durchbruch, von einem Bild im Dunkeln. Während Fatih, bei unserem Spaziergang durch die Straßen, mir die Geschichten erzählte, war ich mit einer Verkettung von Bildern konfrontiert. Was waren das für Bilder? Als er mir von den Menschen in diesen Gebäuden mit ihren Erfolgen und Misserfolgen erzählte, erinnerte mich das an die dialektischen Methoden (sokratische Methode) der griechischen Antike. Vor einem Gebäude, in dem die ersten zugewanderten Menschen wohnten kamen wir zum Stehen. Fatih erzählte mir davon, dass er mit den ehemaligen Bewohnern noch einmal hierherkommen will, um sich hier an diesem authentischen Ort, Ihre Geschichten anzuhören. Er erzählte davon, sie im Jetzt zu porträtieren, aber auch die Fotos jener Zeit fotografieren zu wollen. Ich fragte mich, ob uns etwas entgangen ist. Wie Proust waren wir auf den Spuren der verlorenen Zeit, wir waren in diesen Bildern verloren. 

Dieser Film droht sich in diesen verlorenen Bildern zu verlieren. Keine Geschichte kann sich ohne sich darin zu verlieren, offenbaren. Damit wir diese Bilder finden wollen, müssen wir Sie suchen. 

Das fehlende Bild ist im Grunde ein Beweis für dessen Existenz. Wie sehr auch das Gesuchte fehlen sollte, so ist das der Beweis für sein Dasein. Der Beweis für das Dasein des Gesuchten in dieser Geschichte, ist in Wahrheit für unsichtbar gehalten und dieses einmalige Bild wurde unbemerkt gelassen. Für dieses eine Form zu finden ist ohne Zweifel eine schwierige Angelegenheit. Die Bilder von der Hinrichtung Saddam Husseins und vom Lynchen von Gaddafi, wenn es der Ausdruck erlaubt, zeigen, dass wir einer Hyper-Realität gegenüberstehen. Die televisuellen Bilder in den Nachrichten, aus einer Amateurkamera, die es uns dadurch glaubhaft machen will, zeigt im Grunde eigentlich, dass es ein Nichts ist. 

Wir müssen sehen, dass wir so einem politischen Bild gegenüberstehen. Mit dem Blick, dass wir in der Schuld stehen, dass wir es nicht politisiert sehen dürfen. Wie im Beispiel von Eisenteins Faust, die Menschen nicht aufklären, sondern mit einem Schock-Bild zum Nachdenken anregen will, mit so einer Schockwelle sollen die verborgenen, unpolitischen Bilder nach Eisenstein entborgen werden können. Das ist so eine Art der nichtvorhandenen obsessiven Kamera. Dieses Nichts, ist zum Beispiel wie das Fehlen der Wörter, womit Menschen darüber sprechen können oder wie das Fehlen von Beweisen. Solch ein Nichts – auch wenn Lanzmann mit seinem 9,5-stündigen Dokumentationsfilm über die Naziverbrechen, Beweise gefunden hätte, diese auch vernichten würde –Nichts 

Dieser Film will ein Versprechen über die Suche nach unsichtbaren Bildern, also nach „verlassenen Bildern“ und unpolitischen Bildern, vor allem mit einer obsessiven Kamera, einer Kamera mit Auge, mit einem Ich-sehe einlösen.

Wie ich es immer wieder betone, gibt es keine vermissten Bilder, sondern es gibt nur verlassene Bilder.

Wie sehr auch das Gesuchte fehlen sollte, so ist das der Beweis für sein Dasein. Diese Möglichkeit ist selten und naiv, so wie im 19. Jahrhundert die Modernität den letzten Blick an dem beliebten Objekt.[2] Es ist nicht immer besorgniserregend und erschreckend im Gefühl. Walter Benjamin in seinem Text “Über einige Motive bei Charles Baudelaire”aus einem Gedicht, das „Vorüber“ heißt: Ein Blitz, – dann ging die Schönheit in das Dunkel hin, aus deren Blick ich gerade neu geboren bin. Soll ich dich in der Ewigkeit erst wiedersehen?[3] 

In diesem Augenblick, in dem sich die Augen treffen, und auch in der Menge sich gleich verlieren, genau diesen Schockzustand zeigt Benjamin, diese neue Erfahrung folgend auf: Dieser Augenblick, der durch das schnelle Abbrennen einer Lunte, gezündelt vom lieblichen Feuer verschwindet, ist nicht der des Geschichtenerzählers. Es ist auch nicht der des Dichters, der unter der Sonne oder den Sternen spaziert. Es ist der des Flaneurs, der im Licht der Petroleumlampe unnütz umherläuft. Solch ein Erlebnis ist die Erwartung, dass das Objekt unserer Beobachtung auf uns reagiert. Somit ist es ein Erlebnis eines Zeitalters, welches seine Aura verloren hat. Die Entzückung in der Liebe des Großstädtlers, sagte er, ist nicht im ersten sondern im letzten Blick verborgen.[4] 

video als Ich-sehe ist die Sprache der Empfindungen, ob sie über Wörter, Farben, Töne oder Steine verläuft. video hat keine Meinung. Das zerstört die dreifache Organisation der Perzeptionen, Affektionen und Meinungen, um sie durch ein zusammengesetztes Monument aus Perzepten, Affekten und Empfindungsblöcken zu ersetzen, die für das Bild stehen. Das video bedient sich der Bilder, aber so, dass es eine Syntax erschafft, die das in Empfindung überführt, die das Normalbild zum Stottern bringt, oder zum Zittern, oder zum Schreien oder sogar zum Singen: Das ist der Stil, der Ton, die Sprache der Empfindungen oder die Fremdsprache in der Muttersprache, jene, die um ein künftiges Volk wirbt… Das video verbiegt das das Bild, lässt es vibrieren, umklammert es, spaltet es, um der Perzeptionen die Perzepte, den Affektionen das Affekte, der Meinung die Empfindung zu entreißen – mit Blick, so ist zu hoffen, auf jenes Volk, das noch fehlt.[5] 

All dies ist für ein Volk, das noch nicht vorhanden ist.

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